· 

Auf der Flucht verloren


Thüringen, im frühen Frühjahr 2018. Wieder einmal hatte sich die Enkelin auf den Weg gemacht, für einige Tage bei der Großmutter Quartier aufzuschlagen. Um der alten Dame Gesellschaft zu leisten, Besorgungen, Einkäufe, Haus-und Gartenarbeiten zu erledigen. Mit stattlichen 90 Jahren Lebensalter fiel das eine oder andere nun doch schon sehr schwer. Doch Omas Kopf schien klar wie der einer 18-Jährigen. Oder war sie gar dort stecken geblieben?

Während der Gartenarbeit wurde viel geplaudert. Die Sonne des schönen Frühlingstages lockte aber kein Lachen hervor. Sie schien die alte Frau in einen nimmermüden Feldwebel zu verwandeln. Mit verkniffenen Augen voll selbstgerechter Unzufriedenheit, zischte sie immer neue Anweisungen, Forderungen, Befehle. Die Enkeltochter würgte den leisen Zorn hinunter. Diese Unduldsamkeit kannte sie bereits aus früher Jugend. Freude und Spaß waren definitiv etwas anderes.

Die Stimmung kippte vollends, als die Rede auf aktuelle Themen im ostdeutschen Lande kam – die vielen Flüchtlinge. Zum Glück gab es die jetzt. Ein gefundenes Fressen, ihnen alle Verantwortung in die Schuhe zu schieben, für selbst erfahrenes Leid, das mehr als 70 Jahre zurück lag!

Und was für ein Gespräch war das: Die eine schimpfte sich in einen Rausch hinein, die andere hörte kopfschüttelnd zu und fragte sich still, wo die Großmutter ihre schmerzvollen Erinnerungen verloren haben konnte. Am eigenen Leib hatte diese den Krieg und sein schreckliches Ende erfahren. Und jetzt sprach sie auf verächtlichste Weise: „Diese dreckigen Ausländer benehmen sich wie Schweine! Sie klauen wie die Raben! Unter den schwarzen Schleiern schleppen die Weiber nicht bezahlte Lebensmittel aus dem Laden! Die werden doch überall bevorzugt. Bekommen sofort Wohnung und Arbeit, worauf unsereins lange warten muss. Ihre frechen Rotzlöffel (Kinder) – jede von „denen“ hat ja mindestens zehn -  gehen auf alte Menschen los und stinken, weil sie sich nicht waschen! Die sollen dorthin zurück gehen, woher sie kamen! Was glaubst du wohl, woher der Rechtsruck kommt?“

Der Enkeltochter platzte der Kragen. „Oma! Um Himmelswillen, was ist in dich gefahren? Wer rennt wohl blind der Herde nach wie ein Schaf? Das kennst du doch am besten aus deiner Zeit! Schon vergessen? Oder haben das alles wir erfunden? Die es zum Glück nicht erlebten. Es sind die Unzufriedenen, die zu kurzsichtig sind, um zu wissen warum sie unzufrieden sind! Zu bequem, sich die Mühe zu machen, nachzudenken!

Sage mir bitte genau, wann dir so etwas widerfahren ist, was du gerade beschrieben hast. Wer von den Fremden hat dir etwas getan oder weggenommen?  Oder gar gestohlen? Wer nimmt dir deinen Arbeitsplatz weg? Einer 90-Jährigen! Wo hast du deinen Verstand verloren? Vielleicht damals, als du selber Flüchtling warst? Als ihr zu Kriegsende vor den Russen und gleichzeitig vor deutschen Soldaten, aus Ostpreußen flüchten musstet. In ein deutsches Nirgendwo. Keiner wollte euch haben. Nach deiner eigenen Erzählung wart ihr verhasst, als verlauste Aussätzige. Ohne Heimat. Ohne Zuhause. Ohne Bett. Und oft auch ohne Vater und Mutter. Und DU stellst dich heute hin und verurteilst diese Menschen? Nur weil sie Fremde sind, anders sprechen, anders aussehen, aus einer anderen Kultur kommen. Wie dir einst, geht es ihnen heute. Sie haben ihr Land nicht freiwillig verlassen, sondern einzig, um ihr Leben zu retten! Oh ich schäme mich so für deine Haltung, Oma!“

Die Großmutter wirkte überrascht. In ihren eisigen Blicken gefror das Herz. Beide Frauen wechselten den ganzen Abend kein Wort mehr. Am nächsten Morgen packte die Enkeltochter ihre Sachen und fuhr ohne zu frühstücken den weiten Weg nach Hause. „Nur schnell weg“, dachte sie. Und fühlte sich wie ein Flüchtling.

Kommentare: 2
  • #2

    Rebelline Sabine (Montag, 14 Mai 2018 22:03)

    Hallo Martin,
    vielen Dank für Deinen - den allerersten - Eintrag. Freut mich ganz besonders, dass ich ihn von DIR erhalte.
    Ich sehe das wie Du. Viele Menschen scheinen zu bequem für gründlicheres Nachdenken oder Reflexion. Und wie hier, gar gekoppelt mit Verdrängung. Um die Perspektive zu wechseln, bedarf es einer guten Portion Empathie - das sich hineinversetzen (wollen), in den anderen. Seine Situation, die daraus entstehenden Probleme, usw. Wo Empathie fehlt, gibt es auch kein Mitgefühl oder Verständnis. Dafür Ignoranz, gefrorene Herzen, das Nachplappern von Meinungstrends, weil man eine eigene nicht hat. Vielleicht macht Wohlstand den Menschen auf Dauer dumm?

  • #1

    Martin (Samstag, 12 Mai 2018 00:05)

    Würde vielen Leuten mal gut tun die Perspektive zu wechseln.. Aber das wäre ja mit Anstrengung verbunden...